Künstliche Intelligenz für einen attraktiveren ÖPNV

Die Stadtwerke Gießen schicken sich an, den öffentlichen Personennahverkehr mit einem wegweisenden Forschungsprojekt zu revolutionieren. Erste Ergebnisse liegen bereits vor. 

 

 

Wann fahren wie viele Menschen mit welchem Bus und wo genau ist der Bus eigentlich gerade? Diese Fragen präzise zu jedem Zeitpunkt beantworten zu können, ist Ziel des vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur geförderten Projekts NV-ProVi, an dem die Stadtwerke Gießen (SWG) und das Beratungshaus Brodtmann Consulting aktuell arbeiten. Tatsächlich kommt diesen Informationen immer mehr Bedeutung zu. Dienen sie doch dazu, das Angebot des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) spürbar zu optimieren – sowohl was die Attraktivität als auch die Wirtschaftlichkeit betrifft. „Unsere mit Biomethan betriebenen, nahezu CO2-neutralen Stadtbusse sind ein wesentlicher Bestandteil der Verkehrswende, die wir hier in Gießen konsequent und nach Kräften vorantreiben. Das Projekt NV-ProVi bringt uns dabei entscheidend weiter“, erklärt Jens Schmidt, Kaufmännischer Vorstand der SWG, den Hintergrund.

 

Worum genau geht es? 

Bei NV-ProVi handelt es sich um eine echte Innovation: Fahrzeuge der SWG-Nahverkehrstochter MIT.BUS senden Daten zu ihrer Position und zu ihrer Belegung an einen Server. Hier berechnet eine künstliche Intelligenz (KI) eine Prognose für die Auslastung der Busse und stellt diese bereit. All das geschieht in Echtzeit. „Unsere Daten sind für viele interessant“, weiß Jens Schmidt. Als potenzielle Abnehmer nennt er überregionale Verkehrsorganisationen, Unternehmen, die ÖPNV-Daten verarbeiten – etwa um damit neue Dienste zu entwickeln –, und Hochschulen, die derart detaillierte Informationen gut für Forschungszwecke wie beispielsweise die Erstellung belastbarer Verkehrsmodelle gebrauchen können. Prof. Dr. Jörg Pfister von der Technischen Hochschule Mittelhessen formuliert es so: „Empirische Forschung lebt von aktuellen, frei verfügbaren Daten, die oft schwer zu bekommen sind. Deshalb sind Projekte wie NV-ProVi für uns echte Goldgruben.“ 

Nicht zuletzt dürften sich auch die Verantwortlichen der Stadt Gießen aufmerksam mit der Materie beschäftigen. „Die Erkenntnisse helfen uns, das Nahverkehrsangebot zusammen mit den SWG zu verbessern. Und damit immer mehr Menschen zu überzeugen, auf den Bus umzusteigen. Folglich zahlt NV-ProVi auf unser Ziel ein, die Stadt bis 2035 klimaneutral zu machen“, fasst Gerda Weigel-Greilich zusammen.

Wie viele andere freut sich die für den Verkehr zuständige Dezernentin über die Fortschritte des Projekts. Denn seit dem Start im März 2020 ist schon viel passiert. So hat die MIT.BUS sämtliche über die Förderung finanzierten Fahrgastzählsysteme eingebaut. Alle Fahrzeuge liefern seit März dieses Jahres permanent Echtzeitdaten zu ihrer Position. 25 der 56 Busse senden zudem die jeweils aktualisierte Zahl der Fahrgäste nach jeder Abfahrt an einer Haltestelle. Für die Weiterverarbeitung haben Software-Spezialisten die dafür nötigen ersten KI-Prototypen entwickelt, die sie aktuell auf Präzision in der Prognose und die Geschwindigkeit des Algorithmus optimieren.

 

Erste Visualisierung

Um die Zwischenergebnisse zu visualisieren, entstand eine sogenannte LiveMap. Sie stellt die in Echtzeit verfügbaren Informationen zu Position und Belegung anschaulich dar. Das Besondere daran: Im Vergleich zu den meisten aktuell im Einsatz befindlichen Systemen interpoliert die KI die Positionen der Fahrzeuge nicht zwischen den Haltestellen. Stattdessen verarbeitet sie GPS-Daten, die sich spätestens alle zehn Sekunden aktualisieren. Folglich liefert die KI auch dann sinnvolle Ergebnisse, wenn Busse aufgrund ungeplanter Umleitungen, Baustellen oder sonstiger Verkehrshindernisse eine andere Strecke fahren als üblich. „Die NV-ProVi-LiveMap kann sich problemlos der aktuellen Lage anpassen und zeigt immer korrekte Informationen“, bringt es Mathias Carl, Geschäftsführer der MIT.BUS, auf den Punkt.

Bei den Anzeigen für die Auslastung kommt ein schlauer Mix zum Einsatz. Für Busse, die mit Fahrgastzählsystemen ausgestattet sind, nutzt die KI deren Echtzeitdaten für die Darstellung der aktuellen Werte. Die Prognosen für den Rest der Fahrt errechnet sie aus historischen Informationen. Diese über Jahre gesammelten Daten kommen auch bei Fahrzeugen zum Einsatz, die kein Zählsystem an Bord haben. Hier analysiert die KI die Gesamtsituation im ÖPNV in Gießen und erstellt für alle Fahrzeuge Prognosen. 

„Die aktuelle LiveMap von Gießen ist aber nicht als dauerhafte Einrichtung geplant“, gibt Jens Schmidt zu bedenken. Vielmehr sollen die Daten über kurz oder lang in die LiveMap des Rhein-Main-Verkehrsverbunds einfließen, der das Projekt schon seit zwei Jahren aktiv unterstützt. Nichtsdestotrotz eignet sich die bestehende Visualisierung, um zu vermitteln, wohin die Reise geht und was Fahrgäste erwarten können. Tatsächlich dürfte es schon bald möglich sein, auf dem Smartphone in Echtzeit abzulesen, wann genau der Bus kommt, wie voll er ist und ob er noch Platz für einen Kinderwagen bietet. Auch eine Auskunft, die Alternativen mit freien Sitzplätzen oder zumindest deutlich geringerer Belegung aufzeigt, ist denkbar. Kurz: NV-ProVi zielt in erster Linie darauf ab, Fahrgästen die Nutzung von Bussen und Bahnen bequemer zu machen. Mit schnell und leicht zugänglichen Informationen. Eines dieser Features ist schon in einer etwas reduzierten Form verfügbar: Seit Anfang Mai zeigen die SWG in einer übersichtlichen Grafik, wie voll die Busse sind. Für jede Linie, zu jeder Zeit und für jeden Streckenabschnitt.

 

Technologisch ganz vorn

Mit ihrem Engagement für NV-ProVi erweisen sich die SWG einmal mehr als Treiber des technischen Fortschritts. „Wir arbeiten an einem der innovativsten ÖPNV-Projekte deutschlandweit“, erklärt Jens Schmidt. Und Gerda Weigel-Greilich fügt hinzu: „Die Stadt Gießen fördert Innovation und ist stolz, zusammen mit den SWG technologischer Vorreiter zu sein.“ 

Stichwort fördern: NV-ProVi hat das Zeug dazu, den ÖPNV entscheidend weiterzubringen. Folglich sind die Ergebnisse des Forschungsprojekts auch für andere Kommunen und Verkehrsdienstleister von großem Interesse. Woraus sich der Grund ableitet, warum der Bund das Projekt mit mehr als 350.000 Euro bezuschusst. Die Mittel stammen aus der Forschungsinitiative mFUND und werden nur nach strenger Prüfung vergeben.

Wie sinnvoll NV-ProVi für die Verkehrswende ist, kann Prof. Dr. Jörg Pfister beurteilen: „Wir nutzen die Daten, um mit detaillierten Modellen den Verkehr in Gießen realitätsnah zu simulieren. Mit diesem Ansatz können gute Ideen zur Verbesserung der Verkehrsabläufe virtuell umgesetzt und aussagekräftige Informationen über die zu erwartende Wirkung generiert werden. Diese Informationen bilden dann die Grundlage, um die richtigen Entscheidungen für eine nachhaltige Mobilität in Gießen und anderswo treffen zu können. Denn selbstverständlich lässt sich dieses Vorgehen auf jede Kommune übertragen – wenn die entsprechenden Daten vorliegen.“

Zurück