Die Netze für die Zukunft fit machen

Kohleausstieg, Netzausbau, Elektromobilität – die  Energiewende beschäftigt nicht nur die Politik. Vor allem die Netzbetreiber stehen vor der großen Herausforderung, sich für die Zukunft aufzustellen. Die Krux daran ist nämlich, dass noch niemand abschätzen kann, wohin genau die Reise geht. Die Stadtwerke Gießen AG und ihr Tochterunternehmen Mittelhessen Netz GmbH gehen dieses Thema jetzt mit Unterstützung der Technischen Hochschule Mittelhessen an. 


Dreht es sich im öffentlichen Diskurs um das komplexe Thema Energiewende, liegt der Fokus zumeist auf großen, die ganze Nation betreffende Aufgaben. Die hier entworfenen Szenarien beschäftigen sich folgerichtig mit Mammutprojekten, wie etwa dem nötigen Netzausbau auf der Höchstspannungsebene – Stichwort Südlink. Weniger Beachtung findet hingegen die regionale Sichtweise. „Zu Unrecht“, findet Matthias Funk, technischer Vorstand der Stadtwerke Gießen (SWG). Denn Fakt ist: Regionale Energieversorger und Netzbetreiber spielen eine wichtige Rolle bei der Energiewende. Die Stadtwerke Gießen (SWG) etwa treiben sie schon viele Jahre voran. „Wir haben das Thema noch nie auf regenerativ erzeugten Strom beschränkt“, bringt es Matthias Funk auf den Punkt. Tatsächlich verfolgen die SWG das Konzept, verschiedene Sektoren sinnvoll miteinander zu koppeln. „Unser Fernwärmenetz mit insgesamt 192 Blockheizkraftwerken verbindet seit jeher die Strom- und die Wärmeproduktion.“

Lange Kapitalrückflusszeiten

Obwohl die SWG schon viel in Sachen Energiewende vorweisen können, müssen sie sich drastisch verändern, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Das gilt vor allem für die Infrastruktur, sprich die Netze an sich. Allerdings machen die Rahmenbedingungen eine Planung fast unmöglich. Denn Investitionen ins Netz rechnen sich üblicherweise erst nach Jahrzehnten. „Gleichzeitig müssen wir aber heute ein Netz konzipieren, das auch in zwanzig Jahren noch alle Anforderungen erfüllt“, beschreibt Rüdiger Schwarz, Geschäftsführer der Mittelhessen Netz GmbH (MIT.N), den schwierigen Auftrag. Hier gilt es, vieles im Blick zu behalten. So zum Beispiel dürfte künftig immer mehr volatil erzeugter Ökostrom ins regionale Netz zu integrieren sein. Das erfordert die Möglichkeit, Strom unter Umständen in die übergeordnete Netzebene einzuspeisen. Als nicht weniger spannend erweist sich die Frage, was passiert, wenn sich die Elektromobilität, wie sie sich derzeit darstellt, durchsetzt. „Dann müssen uns jetzt Gedanken darüber machen, wie wir in diesem Fall genug Strom zu den vielen nötigen Ladestellen bringen und ihn intelligent verteilen“, erklärt Rüdiger Schwarz. Nicht weniger wichtig: Wie wirken sich immer mehr Wärmepumpen auf das Netz aus? Sie benötigen ebenfalls relativ viel Strom und das mit vergleichsweise großen saisonalen Schwankungen.

Viele Optionen

Allein für diese beiden Problemstellungen ergibt sich eine Vielzahl denkbarer Entwicklungspfade. Eben hier kommen die Experten der Technischen Hochschule Mittelhessen (THM) ins Spiel. Im Projekt Kommun:E erarbeiten sie umsetzbare Lösungen für kommunale Energieversorger im Allgemeinen und für die SWG im Speziellen. All ihre Prognosen kalkulieren die zu erwartende Effizienzsteigerung und den im Erneuerbare- Energien-Gesetz von 2014 festgelegten Wert von mindestens 80 Prozent Ökostrom im Jahr 2050 mit ein. Außerdem berücksichtigen THM-Forscher, dass sich die regenerativen Energien auch in den Sektoren Wärme und Verkehr durchsetzen werden. Als übergeordnetes Kriterium gilt zudem eine sichere, preisgünstige, verbraucherfreundliche, effiziente und umweltverträgliche leitungsgebundene Energieversorgung wie es das aktuelle Energiewirtschaftsgesetz vorschreibt.
„Für unsere wegweisende Forschungsarbeit haben wir knapp 600.000 Euro vom Bundesministerium für Bildung und Forschung bekommen“, freut sich Prof. Dr.-Ing. Thomas Stetz, bei der THM für das Projekt Kommun:E verantwortlich. Allein diese Zahl lässt erkennen, wie hoch das Thema inzwischen auch bei der Bundesregierung aufgehängt ist. Dass die SWG auf der Liste möglicher Kooperationspartner ganz oben stand, hat mindestens drei gute Gründe: THM und SWG arbeiten schon seit vielen Jahren in ganz unterschiedlichen Bereichen erfolgreich zusammen, und die räumliche Nähe sollte viel der zu erledigenden Aufgaben erleichtern. Das entscheidende Kriterium ist aber, dass sich das Stromnetz der MIT.N in idealer Weise als beispielhaft erweist: Es erstreckt sich zu etwa gleichen Teilen über innerstädtische, vorstädtische und ländliche Regionen. „Diese strukturelle Aufteilung sowie das regionale Zusammenwirken von Strom-, Wärme- und Verkehrssektor bildet die deutsche Energiewende in idealer Weise auf kommunaler Ebene ab. Es ist daher zu erwarten, dass die Ergebnisse auch über die Projektregion hinaus Anwendung finden werden“, freut sich Prof. Dr.-Ing. Thomas Stetz.

Weitere Partner
Die Untersuchungen der Wissenschaftler beschränken sich aber nicht nur auf das Netz der MIT.N. Seit Ende November ist auch der unmittelbare Nachbar, die OVAG Netz GmbH, als Beobachter mit im Boot. Damit eröffnet sich zum Beispiel die Gelegenheit durchzurechnen, ob es sinnvoll ist, die beiden Netze an noch genauer zu bestimmenden Stellen auf der Mittelspannungsebene zu verbinden. „Das könnte uns dabei helfen, auftretende Schwankungen zu entschärfen“, erklärt Rüdiger Schwarz. Wenn etwa die Windparks im Gebiet der OVAG Netz mehr Strom erzeugen, als dort aktuell verbraucht wird, könnte die MIT.N etwas davon abnehmen und in ihrem Netz verteilen. Die deutlich bessere Option, statt die Windräder abzuschalten. Umgekehrt könnten Gießener Blockheizkraftwerke oder die TREA 2 aushelfen, wenn der Wind nicht wie prognostiziert weht.
Außerdem verarbeiten die Forscher im Kommun:E-Projekt demografische Daten, die der Landkreis Gießen beisteuert. „Wie viele Menschen wann und wo Strom brauchen, sind entscheidende Größen für die Planung der entsprechenden Infrastruktur“, weiß Rüdiger Schwarz. Im Rahmen der Erstellung des Masterplans „100% Klimaschutz“ hat der Landkreis Gießen darüber hinaus eine umfassende Datengrundlage zum Strom- und Wärmebedarf bis hin zum Mobilitätsverhalten geschaffen, die dem Projekt ebenfalls zur Verfügung steht.
Sie hilft dem THM-Team auch auf Detailfragen einzugehen. Etwa, wie sich der Absatz von Elektrofahrzeugen entwickeln könnte. Denn auf Basis der Informationen aus dem Landkreis sollten sich diesbezüglich belastbare Prognosen ableiten lassen.  

Fehlinvestitionen vermeiden

In den kommenden rund 30 Monaten beschäftigen sich Professoren, wissenschaftliche Mitarbeiter, Doktoranden und Studierende, die sich mit ihrer Master- oder Bachelorarbeit befassen, mit den einzelnen Aspekten des umfangreichen Projekts. Ziel ist es, anhand der ermittelten Daten effiziente und wirtschaftlich sinnvolle Lösungen zu präsentieren. „Selbstverständlich kalkulieren die Wissenschaftler auch mit gewissen Variablen, etwa im Test befindlichen Stromspeichern“, führt Matthias Funk aus. Und Prof. Dr.-Ing. Thomas Stetz ergänzt: Darüber hinaus beziehen wir auch bereits im Labor erfolgreich erprobte Smart-Grid-Technologie in unsere Überlegungen mit ein.“
Läuft alles nach Plan, können Prof. Dr.-Ing. Thomas Stetz und sein Team Mitte 2021 die Ergebnisse ihres Forschungsprojekts „Transformation kommunaler Energieversorgungs-Infrastrukturen unter dem Einfluss der deutschen Energiewende“ präsentieren. Und damit die Planungen für regionale Versorgungsunternehmen wie den SWG-Konzern entscheidend erleichtern. Die Forschungsergebnisse sollten die Entwicklung von Ausbauplänen für Netze ermöglichen, die zwei wichtige Kriterien erfüllen: Sie werden künftigen Anforderungen gerecht und bergen nur ein sehr geringes Restrisiko für langfristig wirkende Fehlinvestitionen.

Zurück